Revolution des Verzichts: Das Nightingale-Modell

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Das Leben in den Industrienationen ist mittlerweile von einer nie zuvor dagewesenen Masse an Annehmlichkeiten geprägt. Doch sind wir durch diesen hohen Lebensstandard auch glücklicher? Steigt mit dem Komfort tatsächlich auch die Lebensqualität oder werden durch deren Gleichsetzung in Wirklichkeit Dinge vernachlässigt, die unserer Zufriedenheit zuträglicher wären? Was wäre, wenn wir uns vom Ballast unnötiger Bequemlichkeiten befreiten und stattdessen sozialer und ökologisch verträglicher lebten? Diesem Ansatz folgt das australische Nightingale-Modell. Und nein, dabei handelt es sich nicht etwa um eine Öko-Bauernhof-Kommune, sondern um einen gesellschaftsnahen und städtetauglichen Lösungsansatz für die Probleme eines zu sehr vom Profit getriebenen Wohnungsmarkts.


Alles begann mit einem Prototypen namens „The Commons“. Der von Breathe Architects geschaffene Geschosswohnungsbau nahe Melbourne basiert auf dem Drei-Säulen-Modell für Nachhaltigkeit und ist dementsprechend ökologisch nachhaltig, finanziell tragbar und sozial verantwortungsvoll. Ein zentraler Punkt für das Erreichen dieses Dreifachziels war der Verzicht auf Luxus, den die Australier bis dahin als Notwendigkeiten zu betrachten gelernt hatten. Dazu gehörten nicht nur Annehmlichkeiten wie Klimaanlage, zweite Badezimmer oder eine Tiefgarage, sondern auch das sonst übliche Ziel der Gewinnmaximierung mit ihren Agenten wie Maklern, Marketing-Teams und Musterwohnungen. All das sparte man sich und investierte stattdessen in höhere Räume, bessere Verglasung und hochwertigere Materialien.



Sozio-ökologisch nachhaltig

The Commons ist ein Mischgebäude für das Leben in der Stadt. Im Erdgeschoss befinden sich Gewerberäume für Läden und Werkstätten sowie eine Lobby. Darüber liegen auf vier weiteren Geschossen 24 Apartments. Das Dach ist als Gemeinschaftsbereich konzipiert und verfügt über eine Waschküche, Gemüsebeete, Grill und Bienenstöcke – allesamt Maßnahmen, die ein gemeinschaftlicheres und geselligeres Zusammenleben und eine „know-your-neighbours“-Moral fördern sollen. Grün wird das Ganze mithilfe einer 18-KW-Solaranlage, Regenwassernutzung für Bewässerung und Gemeinschaftstoiletten sowie umweltfreundlichen Materialien wie recyceltes Holz für die Böden, Baustahl statt Aluminium für Lampen oder Türknäufe aus lokal handgefertigter Bronze statt aus Chrom.

 

Ethisch finanziert

Das Gebäude ist zudem zu 100 Prozent frei von Emissionen aus fossilen Brennstoffen. Verpackt in eine offene urbane Architektur mit über Balkone gespannten Ketten, an denen Kletterpflanzen emporranken, wurde es Australiens grünster Geschosswohnungsbau. Finanziert wurde das Projekt, nach einigen Rückschlägen und Verzögerungen aufgrund der Finanzkrise, in erster Linie durch die ethischen Investoren Small Giants. Dieser finanzielle Aspekt wurde für das Nightingale-Modell in der Folge angepasst, sodass Nightingale-Projekte neben ethischen Anlagen auch von den späteren Nutzern direkt finanziert werden. Das Prinzip in einem Satz: Architekten schließen sich mit sogenannten ethischen Investoren und zukünftigen Nutzern zusammen, um Projekte nach dem Drei-Säulen-Modell zu verwirklichen.

Wer hat’s erfunden?

Aus deutscher Sicht ist der Ansatz „Nutzer als Bauherren“ nicht wirklich neu, denn das Prinzip kennt man hierzulande als Baugemeinschaft oder Baugruppe. Auch dass Architekten aus sozialem Engagement aktiv und gezielt solche Gemeinschaftsprojekte angehen, findet man mittlerweile immer öfter in Ballungsgebieten mit schwindendem Wohnraum. Das Besondere an Nightingale ist, dass sich das Ganze quasi unter einer Marke mit Leuchtturmwirkung formiert und so zu einem festen Anlaufpunkt für sozio-ökologisch verträgliches Bauen wird, was der Bewegung zusätzlichen Schwung verleiht.

Die von Breathe-Architecture-Chef Jeremy McLeod gegründete Nightingale Housing verteilt Lizenzen an Architekten für Nightingale-Projekte und wählt dabei gewissenhaft nach deren Eignung aus. Darüber hinaus verwaltet die Gesellschaft die Warteliste möglicher Nutzer, bringt zukünftige Investoren zusammen und definiert Designprinzipien, an die die Lizenznehmer gebunden sind. Nightingale ist also ein Bisschen so etwas wie eine kleine Behörde für ethisch korrektes Bauen – und damit bereits ziemlich erfolgreich: Das vielfach preisgekrönte The Commons wurde 2014 fertiggestellt. 2015 erfolgte die Gründung von Nightingale Housing. Mittlerweile sind vier Projekte fertiggestellt, mindestens sechs Nightingale-Projekte befinden sich noch in Entwicklung.