Das Portfolio von Zaha Hadid umfasst zu großen Teilen eine Sammlung von Meisterwerken. Doch auch die Liste der Kontroversen, die ihre Arbeiten auslösten, ist nicht gerade kurz. Seien es gegenüber Mensch und Umwelt ignorante Projekte in China, menschenunwürdige Zustände für die Arbeiter ihres Fußball-WM-Stadions in Katar oder die komplette Annullierung des Auftrags für das Tokioter Olympiastadion wegen Überteuerung – Hadid bot zeitlebens viel Fläche für Kritik. So ist es auf ironische Weise nur konsequent, dass auch das letzte von ihr betreute Projekt, der Bahnhof von Afragola, nicht ohne Kontroverse auszukommen scheint.
Afragola ist eine 65.000 Einwohner starke Gemeinde im Großraum Neapel und etwa 12 Kilometer nördlich von der Metropole gelegen. Der neue Bahnhof, welcher seit 2003 mit jahrelangen Unterbrechungen gebaut wird, soll als Teil des Hochgeschwindigkeitsnetzwerks Treno Alta Velocita (TAV) den Neapolitanischen Hauptbahnhof entlasten. Hierbei fungiert er zum einen als Verbindung für 15 Millionen Menschen in den südlichen Regionen Kampanien, Apulien, Molise, Kalabrien und Sizilien zu Norditalien und Europa. Zum anderen verbindet er Europa und Norditalien mit den südlichen Hafenstädten Gioia Tauro, Taranto, Bari, Brindisi, Palermo und Augusta für den Gütertransport.
Eine „Kathedrale in der Wüste“
Am 6. Juli letzten Jahres wurde die fertiggestellte erste Phase des Projekts feierlich von Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni eingeweiht. Nicht ohne Stolz, denn immerhin handelt es sich um das letzte Projekt der Meisterarchitektin und obendrein, wie von Zaha Hadid nicht anders zu erwarten, um einen einzigartigen und durchaus grandiosen Entwurf. Ein dynamischer Bau, der sich 400 Meter lang um die Gleise schlängelt, über die er sich bis auf 40 Meter erhebt. Das 30.000 Quadratmeter große viergeschossige Innere gleicht einer futuristischen Kathedrale, unter einem Dach mit 5.000 Quadratmetern Glasfläche.
Als Kathedrale bezeichnet auch teilweise die italienische Presse den Bau, jedoch als eine „Kathedrale in der Wüste“ (cattedrale nel deserto) – ein Idiom für ein unnützes und in seiner Unterhaltung kostspieliges Ding, das man nicht loswird. Dies hat mehrere Gründe. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist mangelhaft. Weder ist der Bahnhof direkt an eine U-Bahn – die nächste Station ist über eine Viertelstunde entfernt – noch an die Regionalbahn Circumvesuviana angebunden, welche Neapel mit den umliegenden Gemeinden verbindet. Shuttlebusse stecken häufig im dichten Stadtverkehr fest und obendrein fehlen für diese angemessene Parkplätze. Was die Schnellzugverbindungen angeht, ist die wichtige Strecke Neapel-Bari noch lange nicht fertiggestellt.
Voller Betrieb erst ab 2022
Kurzum: Der Bahnhof kann noch längst nicht so genutzt werden, wie er es sollte. Ein ärgerlicher Zustand, da die erste Phase immerhin schon über 60 Millionen Euro gekostet hat. Die zweite Bauphase soll 2022 fertiggestellt werden und wird nochmals Dutzende Millionen verschlingen. Erst dann wird es eine Anbindung an die Circumvesuviana und weitere Regionalzüge nach Caserta, Benevento und Neapel-Nord sowie an die bis dahin vermutlich fertiggestellte Neapel-Bari-Hochgeschwindigkeitsstrecke geben. Auch werden dann statt der 18 Hochgeschwindigkeitszüge, die seit dem 11. Juni 2017 in Afragola in beiden Richtungen halten, 28 den Bahnhof anfahren.
Alles halb so wild
Doch man kann das Ganze auch positiv betrachten. Letztendlich ist die “Kathedrale in der Wüste” bzw. die Nutzlosigkeit von Zaha Hadids letztem Meisterwerk nur ein temporärer Zustand. Und so wird der Bahnhof von Afragola doch immerhin in einigen Jahren nicht nur Architekturliebhaber, sondern gewiss auch eilige Bahnreisende erfreuen.