Café statt Altar, Bücherregale statt Heiligenstatuen, Gästezimmer statt Sakristei? In England ist das schon keine Seltenheit mehr, und auch in Deutschland werden immer mehr Kirchen umgenutzt. Sakrale und moderne Architektur zu vereinbaren, ist jedoch ein echter Balanceakt. Davon können Architekten, die Kirchen zu Restaurants, Wohnungen oder Veranstaltungshallen umbauen, ein Lied singen. Diese drei Beispiele zeigen: Der Kraftakt lohnt sich.
Essen und Tanzen: „Das Alma de Cuba“ in Liverpool
Von außen scheint die “St. Peters” Kirche in der Seel Street nicht besonders ungewöhnlich. Im Inneren nimmt das sakrale Ambiente jedoch sehr weltliche Formen an: In der einst ältesten Kirche Liverpools erklingen heute statt Kirchenliedern lateinamerikanische Rhythmen und House.
Lange Reihen von Tischen über zwei Ebenen, Animier-Tänzerinnen auf dem Altar, im Längsschiff eine Bar unter Hirschgeweih-Lüstern: Das „Alma de Cuba“ ist eine Mischung aus kubanischem Nobelrestaurant und Club. Historische Elemente wie die gemeißelten Erinnerungstafeln und die Deckenfresken im Altarbereich blieben erhalten und geben dem Amüsiertempel ein ganz eigenes Flair. Das „Alma de Cuba“ wird übrigens gerne für Hochzeitsfeiern gebucht. Und sonntags gibt es Brunch mit Live-Gospelchor – eine kleine Verbeugung vor der einstigen Nutzung. R2 Architecture zeichnet sich für diese spektakuläre Umnutzung der Kirche verantwortlich.
Seminare und Ferien: „Die Bleibe“ in Wehlen
Das kleine Dorf Wehlen bei Bernkastel-Kues in Rheinland-Pfalz hat jetzt außer seinem hervorragenden Wein noch eine weitere Attraktion zu bieten: Hier gibt es seit Juni 2018 die erste Kirche Deutschlands, in der Touristen Urlaub machen können. Mit viel Liebe zu den historischen Details hat die Eigentümerin Anke Nuxoll-Oster das Gebäude aus dem Jahr 1668 in ein luxuriöses Ferien- und Seminarhaus für Gruppen verwandelt.
Die alte Kirche wieder gesellschaftsfähig zu machen, war kein leichtes Unterfangen. Es hatte jahrelang hineingeregnet. Entsprechend stark war der Schimmel- und Hausschwammbefall. Das ist jetzt Vergangenheit: Die Feriengäste genießen allen modernen Komfort und ein stilvolles Ambiente mit heimeligem Charakter. Die hellen, freundlichen Zimmer bieten Platz für bis zu 24 Personen. Ein besonderes Highlight ist der offene Koch-Essbereich im 8 Meter hohen Chorraum.
Reizvoll zur Geltung kommt die alte Bausubstanz durch die schlichte, ganz in Grau und Weiß gehaltene Einrichtung, die den alten Steinwänden, Wandnischen, Gewölberippen und geschwungenen Fensterbögen den Vortritt lässt. Der Dachstuhl wurde ausgebaut zu einem großen Wohnzimmer, in dem auch Yogakurse und Workshops abgehalten werden können. Im loungig gestylten Außenbereich kann relaxt, gegrillt und gespielt werden.
Lesen und Kaffee trinken: „Selexyn Dominikanen“ in Maastricht
Als Merkx + Girod Architekten sich dieses ehrwürdigen Gemäuers annahmen, war es in einem unschönen Zustand, heruntergewirtschaftet von Zwischennutzungen etwa als Lagerhalle, Boxring oder Fahrradgarage. Davon ist jetzt nichts mehr zu merken. Nachdem die Dominikanerkirche in Maastricht aus dem 13. Jahrhundert aufwendig zu einer Filiale der Buchhandlungskette Selexyn umgebaut wurde, schweben Lesebegeisterte hier im „Siebten Bücherhimmel“.
Über schmale Treppen entlang eines mehrstöckigen, begehbaren Bücherregals können Besucher die historischen Deckenfresken erklimmen, um in Ruhe in Büchern zu stöbern. Im Coffeeshop erinnert die Anordnung der Tische in Kreuzform noch an die frühere Nutzung als Altar. Von der Lesung bis zum Konzert finden jährlich rund 140 Veranstaltungen statt. Von der britischen Tageszeitung „The Guardian“ wurde das Dominikanen sogar zur „schönsten Buchhandlung der Welt“ gewählt.
Quelle: www.instagram.com/p/BOMIGCehEL8/
Kirchen im Wandel der Zeit
Der romanische und gotische Stil, der alten Kirchen und ihren Umnutzungen so viel Charisma verleiht, ist in den neuen Kirchen nicht mehr zu finden. Die Opulenz weicht Klarheit und Minimalismus. Dafür wird im Bereich Energieeffizienz „aufgestockt“. Erfahren Sie mehr in unserem Artikel über moderne Kirchenarchitektur.