In New York gilt, je höher ein Gebäude, desto profitabler ist es. Was der Höhe jedoch im Wege steht, sind New Yorks „Zoning Laws“, die vorschreiben, wie groß die Bruttogrundfläche im Verhältnis zur Grundstücksfläche sein darf. Das heißt, theoretisch. In der Praxis kann hier nämlich gewaltig getrickst werden. Das New Yorker Architekturbüro oiio führt diesen Zustand nun ad absurdum, indem es folgende Frage in den Raum wirft: Was wäre, wenn man statt der Bauvorschriften das Gebäude selbst beugte; wenn man Höhe durch Länge ersetzte? In einem Entwurf namens „The Big Bend“ spielt es dieses Szenario durch.
Gedanklicher Ausgangspunkt für The Big Bend – zu Deutsch „die große Biegung“ – sind die Entwicklungen um New Yorks 57th Street. Hier nahm mit dem schlanken Superwolkenkratzer One57 ein irrsinniges bauliches „Hochstapeln“ seinen Lauf, das im ersten Quartal 2016 in einem Durchschnittspreis für Wohnungen gipfelte, der um 625 Prozent höher war, als zur Fertigstellung des Turmes 2014.
Der Grund für diese Preisexplosion liegt in der Entstehung einer Reihe weiterer prestigeträchtiger Supertürme nach Vorbild von One57. Bei all diesen Gebäuden, wie 432 Park Avenue, 111 West 57th Street oder 220 Central Park South (die letzten beiden befinden sich noch im Bau), wurden diverse Tricks angewandt, um im Rahmen der Zoning Laws immense Höhen zwischen knapp 300 und 440 Metern zu erreichen.
„Schlankheitswahn“ und Luftrechtehandel
Zum einen sind die Türme extrem schmal. Laut Bauordnung darf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Bruttogrundfläche und Grundstücksfläche (FAR: floor area ratio) nicht überschritten werden. Daher gilt, je schlanker, desto höher kann man bauen. Neben diesem bediente man sich noch eines weiteren „Wachstumsmittels“: dem Luftrechtehandel. In New York kann man als Bauherr die Luftrechte benachbarter Grundstücke käuflich erwerben, die ihre Fläche nicht voll ausgenutzt haben. So hat etwa Donald Trump bei seinem Trump World Tower die Luftrechte sieben niedrig bebauter Nachbargrundstücke erworben, um die gewünschte Höhe zu erreichen.
The Big Bend
Absurd? Ja. Aber vielleicht noch nicht absurd genug, denn nun kommt The Big Bend ins Spiel. Statt wie die üblichen Wolkenkratzer im Himmel zu enden, würde dieser am oberen Ende in über 500 Metern Höhe eine Kurve beschreiben und auf den Boden zurückkehren. Das Ergebnis wäre ein 4.000 Fuß (1.219,2 Meter) langes Gebäude – das längste der Welt.
Die Inspiration für den eigenwilligen Entwurf kam Architekt Ioannis Oikonomou, als er von einem neuartigen Aufzugsystem erfuhr, das Aufzüge nicht bloß vertikal, sondern auch horizontal durch ein Gebäude schicken kann. Entwickelt wird dieses von thyssenkrupp unter dem Namen „MULTI“. Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine revolutionäre Erfindung, die einen Wendepunkt in der Gebäudeentwicklung bedeuten könnte. In MULTI werden Aufzüge magnetisch bewegt, sodass ein Seil – aufgrund des Gewichts bislang eines der größten Hindernisse für extrem hohe Bauten – wegfällt. Zudem werden sich in diesem System gleich mehrere Aufzüge wie in einer kleinen lokalen Metro durch die Gebäude bewegen.
Satire
Auch wenn er technisch möglich wäre, wird The Big Bend wohl nie gebaut werden. Das ist vermutlich auch ganz im Sinne von oiio, denn wirklich ernst gemeint scheint der kuriose Entwurf nicht zu sein. Vielmehr handelt es sich um Satire, die den rein profitorientierten Trend zu schlanken Riesentürmen kritisiert. Nicht von ungefähr wird 57th Street auch „Billionaires' Row“ genannt. Die Wohnungen erreichen hier Preise, die teilweise tatsächlich nur von Milliardären oder Semimilliardären bezahlt werden können. Ein absurder Zustand, denn während es sich für die Superreichen lediglich um eine weitere Investition handelt, sind in New York fast 63.000 Menschen obdachlos (Stand November 2016).
Oiio führt diesen Missstand eindrücklich mit einer Skizze vor Augen. Diese zeigt einen einsamen Sessel mit Beistelltisch vor einer gewaltigen Fensterfront inmitten eines weitläufigen Raumes in The Big Bend. Darunter die Worte: „Es ist still, weil niemand da ist. Die Quadratfuß sind nicht zum Wohnen – sie sind zum Investieren da.“