Das ICD und ITKE der Universität Stuttgart entwickeln potentiell zukunftsweisende Baumethoden nach Vorbildern aus der Tierwelt – und unter Einsatz von Robotern. In der Geschichte der Technik diente die Natur schon so manches Mal als Vorbild für neue Materialien, Konstruktionen oder Maschinen. Der schier unendliche Fundus an Dingen, die wir noch von ihr lernen können, ist aber noch längst nicht ausgeschöpft. So liefern neue Erkenntnisse in der Biologie immer wieder auch Inspiration für die Entwicklung innovativer Baumethoden.
Besonders fruchtbar zeigen sich neue Einblicke in die Natur in den Forschungsprojekten des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart. Hier entwickeln Architekten und Ingenieure unter anderem neue Konstruktionssysteme auf Grundlage bionischer Untersuchungen. Die erstaunlichen Resultate dieser Arbeit kann man alljährlich anhand der gemeinsamen Forschungspavillons nachvollziehen. 2016 gab es zusätzlich zum aktuellen Forschungspavillon in Stuttgart noch den Elytra Filament Pavilion im Londoner Victoria and Albert Museum zu bestaunen.
ICD/ITKE Forschungspavillon 2015-16: Seeigel und Sanddollars
Der letzte nominelle Forschungspavillon stützte sich auf Beobachtungen bei Seeigeln bzw. einer Unterart – dem Sanddollar. Die Forscher imitierten das hochleistungsfähige, segmentierte Schalentragwerk dieser Tiere, indem sie zunächst dünne Furnierstreifen zu ebenen Sperrholzplatten laminierten. Diese ließen sich durch unterschiedliche Faserrichtungen und Materialstärken zu verschiedenen Krümmungsradien verbiegen. Gekrümmt, wurden die Platten dann mithilfe von Robotern durch den Einsatz einer Nähmaschine als Dreierpaare verbunden und in Form gebracht.
151 dieser Segmente bilden den fertigen Pavillon. Ihre Glieder sind dabei in Form und Faserorientierung jeweils an die lokalen statischen und geometrischen Erfordernisse angepasst. So ergibt sich die endgültige Form des Experimentalbaus aus den lokalspezifischen Gegebenheiten des Universitätscampus. Die Segmente selbst werden durch eine Kombination aus Fingerzinken und Reepschnüren miteinander verbunden.
Elytra Filament Pavilion: Käferflügel
Der Elytra Filament Pavilion wurde im Rahmen der V&A Engineering Season 2016 konstruiert. Das Konzept basierte bereits auf früheren Forschungspavillons und wurde seither kontinuierlich weiterentwickelt. Als natürliches konstruktives Vorbild, welchem der Pavillon auch seinen Namen verdankt, dienten Deckflügelschalen fliegender Käfer. Diese „Elytren“ setzen sich aus einer Ober- und Unterschale zusammen, die über Stützelemente (Trabekeln) miteinander verbunden sind, in denen Fasern beider Schalen kontinuierlich ineinander übergehen.
Die Forscher abstrahierten dieses System, indem sie in einem kernlosen Wickelverfahren Carbon- und Glasfasern robotisch um Punkte entlang eines sechseckigen Wickelwerkzeugs ablegten. Die Reihenfolge der abgelegten Fasern bestimmte dabei die Art, wie diese sich wechselseitig verformten, und somit die Form der daraus resultierenden Fläche. Die so hergestellten Zellen wurden nach Aushärtung des Materials wieder von dem Werkzeug gelöst und bildeten schließlich das Dach des Pavillons, wobei die individuellen Formen den unterschiedlichen statischen Anforderungen innerhalb der Struktur Rechnung trugen.
Potenzial intelligenter Architektur
Die beschriebenen bionischen Konstruktionssysteme bergen enorme Potentiale in sich – auch das einer völlig neuartigen Architektur. Sie sind extrem leicht, materialarm und ungeheuer adaptiv. Dass diese Anpassungsfähigkeit bis zu einer Art intelligentem Wachstum reichen kann, demonstrierte der Elytra Filament Pavilion: Sensoren in den Fasern sammelten Informationen zu Klima, Besucherverhalten und Spannungszuständen im Tragwerk, welche ein Computer auswertete, um dann mittels eines Wachstumsalgorithmus über zukünftige Rekonfigurationen zu entscheiden. Die spezifischen Informationen zum Bau der nötigen Module wurden sogleich an einen in den Pavillon integrierten Fertigungsroboter gesendet. Auf diese Weise entstanden vor Ort neue Module und der Pavillon wuchs – als eine lebendige, intelligente Architektur, die mit ihrer Umwelt interagiert.
PROJEKT-TEAM ICD/ITKE Forschungspavillon 2015-16:
Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) – Prof. Achim Menges
Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) – Prof. Jan Knippers
Wissenschaftliche Entwicklung und Projektleitung
Simon Bechert, Oliver David Krieg, Tobias Schwinn, Daniel Sonntag
Konzeptentwicklung, Systementwicklung und Realisierung
Martin Alvarez, Jan Brütting, Sean Campbell, Mariia Chumak, Hojoong Chung, Joshua Few, Eliane Herter, Rebecca Jaroszewski, Ting-Chun Kao, Dongil Kim, Kuan-Ting Lai, Seojoo Lee, Riccardo Manitta, Erik Martinez, Artyom Maxim, Masih Imani Nia, Andres Obregon, Luigi Olivieri, Thu Nguyen Phuoc, Giuseppe Pultrone, Jasmin Sadegh, Jenny Shen, Michael Sveiven, Julian Wengzinek, and Alexander Wolkow
Mit der Unterstützung von Long Nguyen, Michael Preisack und Lauren Vasey
In Zusammenarbeit mit
Institut für Evolution und Ökologie, Fachbereich Evolutionsbiologie der Invertebraten – Prof. Oliver Betz
Zentrum für Angewandte Geowissenschaften, Fachbereich Invertebraten-Paläontologie – Prof. James Nebelsick
Universität Tübingen
ENTWURF, INGENIEURSLEISTUNG UND FERTIGUNG Elytra Filament Pavilion:
Achim Menges mit Moritz Dörstelmann
ICD – Institut für Computerbasiertes Entwerfen, Universität Stuttgart
Achim Menges Architekt, Frankfurt
Team: Marshall Prado (Fertigungsentwicklung), Aikaterini Papadimitriou, Niccolo Dambrosio, Roberto Naboni, mit Unterstützung von Dylan Wood, Daniel Reist
Jan Knippers
ITKE – Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen, Universität Stuttgart
Knippers Helbig Advanced Engineering, Stuttgart, New York
Team: Valentin Koslowski & James Solly (Tragwerksentwicklung), Thiemo Fildhuth (Struktursensorik)
Thomas Auer
Transsolar Climate Engineering, Stuttgart
Building Technology and Climate Responsive Design, TU München
Team: Elmira Reisi, Boris Plotnikov
Mit Unterstützung von:
Michael Preisack, Christian Arias, Pedro Giachini, Andre Kauffman, Thu Nguyen, Nikolaos Xenos, Giulio Brugnaro, Alberto Lago, Yuliya Baranovskaya, Belen Torres, IFB Universität Stuttgart (Prof. P. Middendorf)
Beauftragt durch:
Victoria & Albert Museum, London 2016