Bauwerke nennen sich zwar in der Rechts- und Wirtschaftssprache „Immobilien“, was sich mit „Unbewegliche“ übersetzen ließe, doch sind sie oftmals ganz und gar nicht unbewegt. Denn auch wenn sie in der Regel ihren Platz nicht verlassen – selbst hier gibt es Ausnahmen -, wandeln sie sich doch erheblich im Lauf der Zeit. Und das häufig nicht nur im Sinne eines allmählichen Verfalls. Durch Umnutzung und Umbau vollzieht Architektur bisweilen spektakuläre Verwandlungen, an die ihre Erbauer nicht zu denken gewagt hätten. Gelegentlich wächst sie gar – und manchmal sogar zusammen.
Selten sind zwei Gebäude so spektakulär zusammengewachsen wie im Fall von Coal Drops Yard. In den 1850ern und -60ern erbaut, stellte der unweit von King’s Cross gelegene Hof einst das Hauptkohlenlager des viktorianischen London dar. Über insgesamt vier Gleise fuhren hier mit Kohle beladene Züge in zwei auf Viadukten ruhende Lagerhallen ein, wo die Ladung zum weiteren Transport in Füllrümpfe abgelassen wurde. Die beiden Backsteinbauten versprühen jenen altindustriellen Charme, der seit einigen Jahren in Umnutzungen zu Wohn- und Büroräumen äußerst gefragt ist. Nichtsdestotrotz blieben sie nach einer kurzen Karriere als Werkstätten, Ateliers und Nachtclubs seit Ende der 1990er Jahre ungenutzt.
Alte Dächer neu gekrümmt
Da die Vernachlässigung der Immobilie im Herzen Londons ein geradezu unhaltbarer Zustand war, machte sich Heatherwick Studio 2014 daran, den verlassenen Coal Drops Yard in eine attraktive Shoppingmeile zu verwandeln. Mit einer einfachen Verlängerung der beiden langgezogenen Gebäude wäre dies jedoch nicht getan gewesen. Die in ihrer ursprünglichen Funktion nie für die Zirkulation von Fußgängern vorgesehenen Industriebauten standen zu weit auseinander und mussten also irgendwie miteinander verbunden werden. Statt aber die beiden Häuser in ihrer Geometrie mit irgendeinem neuen Verbindungsbau kollidieren zu lassen, entwickelte das Architekturbüro einen äußerst geschmeidigen Übergang, und zwar indem es die beiden Dächer nachträglich krümmte.
Epochale Vereinigung
Das Ergebnis dieser Maßnahme ist eine großartige Verbindung von zeitgenössischer Baukunst und der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts. Die Satteldächer der Bestandsgebäude werden in einer kurvenförmigen Bewegung fortgeführt und laufen schließlich in einer Art Brückenbau zusammen. Diese neue Schnittstelle kreiert sowohl zusätzlichen Innenraum auf einer höheren Ebene als auch einen großzügigen neuen öffentlichen Platz im Außenbereich darunter. Ersterer bietet dem Areal einen zentralen Fokus mit Blick auf London, letzterer eignet sich etwa für Konzerte und ähnliche Veranstaltungen.
Wiederbelebung
Der viktorianische Charme und der historische Charakter von Coal Drops Yard bleiben unterdessen erhalten. Nicht nur die Backsteinbauten, sondern auch der mit Kopfstein gepflasterte Hof werden bis zur Neueröffnung im Herbst 2018 aufwendig saniert. Dann sollen hier circa 65 Läden ein neues Zuhause finden, darunter fünf größere Geschäfte sowie Boutiquen, Restaurants, Galerien und Musikveranstaltungsorte. Der Außenbereich soll wiederum Märkte und Straßenfestivals beherbergen. Projektentwickler argent erhofft sich bis zu 20 Millionen Besucher jährlich. Vielmehr kann man ein stillgelegtes Objekt kaum wiederbeleben.