Blickfang, Statement, technische Errungenschaft: Mit enormen Auskragungen zeigen Bauherren, was sie haben, und Bauingenieure, was sie können.
So essentiell innere Werte auch sein mögen, bleibt der erste äußere Eindruck doch stets einer der wichtigsten. Dies gilt in besonderem Maße auch für Architektur. Sie ist häufig das Erste, was man von einer Firma, einer Institution oder auch einfach von Unbekannten zu sehen bekommt. Um mit dem Aushängeschild Architektur keinen schlechten Eindruck zu machen, kann man sie einfach und unauffällig halten. Will man allerdings einen bleibenden Eindruck hinterlassen oder gar erstaunen, bedarf es schon etwas Herausragendem. In manchen Fällen wird dieses „Herausragende“ geradezu wörtlich genommen – in Form enormer Auskragungen.
Von der pragmatischen Lösung zum Spektakel
Historisch betrachtet, wurden die über die Grundfläche hinausragenden Gebäudeteile ursprünglich hauptsächlich dazu verwendet, räumliche Einschränkungen am Boden durch Vergrößerung der höheren Stockwerke zu kompensieren. So ließ man etwa bei mittelalterlichen Fachwerkhäusern häufig jedes Stockwerk ein Stück weit über das darunterliegende auskragen. Diese Funktion und andere haben Auskragungen selbstverständlich auch heute noch nicht eingebüßt. Allerdings rückt ab einer gewissen Größe dieser Bauteile eindeutig das Spektakuläre in den Vordergrund.
Wagemut und Kontrolle
Spektakuläre Auskragungen bestechen durch das dramatische Moment, allen nach unten wirkenden Kräften zum Trotz weit über das Hauptvolumen eines Gebäudes hinauszuragen. Architektur, die sich maßgeblich durch dieses Merkmal auszeichnet, suggeriert einerseits unternehmerischen Wagemut, andererseits aber auch eine Macht oder Kontrolle (über physikalische Gesetze), die eine gewisse Größe oder Exzellenz voraussetzt. In dieser Hinsicht erfüllen extreme Auskragungen in ähnlicher Weise eine Funktion als Statussymbol wie extreme Höhen.
Gigantisch: CCTV Headquarters
Ein hervorragendes Beispiel solch prestigeträchtiger Dramatik sind die CCTV Headquarters in Beijing. Die 234 Meter hohe ikonische Sendezentrale von Rem Koolhas und Ole Scheeren ist vermutlich der Weltmeister in Sachen Auskragung. Zwei schräg zueinander geneigte Türme werden hier am oberen Ende durch einen über Eck verlaufenden Gebäudeteil verbunden, welcher sich in der schwindelerregenden Höhe von 162 Metern völlig in der Schwebe befindet. Diese Verbindung kragt um sage und schreibe 75 Meter aus und umfasst für sich genommen bis zu dreizehn Geschosse.
Die Statik dieser gewagten Konstruktion stellte die Ingenieure vor einige Probleme. Letztendlich fand man in einem komplexen Stahlskelett die Lösung, dessen Streben sich an jenen Stellen verdichten, wo besonders hohe Lasten auftreten. Zur Freude aller Bauingenieure wurde dieses Netz aus Stahl nicht hinter die Glasfassade verbannt, sondern nach außen hin sichtbar belassen.
Ironisch: Ragnarock
Dass das dramatische Moment extremer Auskragungen durchaus auch auf ironische Weise eingesetzt werden kann, beweisen die Architekten von MVRDV und COBE mit „Ragnarock“. Dieses Museum für Pop-, Rock- und Jugendkultur im dänischen Roskilde spiegelt architektonisch sowohl das Glamouröse als auch das Ausufernde, Übertriebene der Welt des Rock ’n’ Roll wider. Hierzu trägt, neben einer schrillen, goldglänzenden Fassade aus anodisiertem Aluminium, vor allem eine geradezu irrsinnige Auskragung bei, welche beinahe die Länge des Hauptvolumens erreicht.
Fazit
Auskragungen mit extremen Spannweiten wie in den oben erwähnten Beispielen kennzeichnen ihre Gebäude als etwas Besonderes und ernten zu Recht nicht nur von Laien Staunen. Vor allem die CCTV Headquarters zeigen, dass es sich um wahre Errungenschaften moderner Bautechnik handelt, die ohne komplexe Berechnungsmethoden und besonders leistungsfähige Materialien nicht möglich wären.