Extremes Klima und kaum zugängliches Gelände machen das Bauen in den Bergen seit jeher zu einer Herausforderung, die logistische Meisterleistungen von Ingenieuren verlangt. Gleichzeitig ist es eine Gratwanderung. Jahrhunderte alte Bautradition muss in eine Ästhetik übersetzt werden, die dem Zeitgeist entspricht. Moderne Technik soll in eine gewaltige Natur mit fragilem Gleichgewicht integriert werden. Wenn Alpen-Architektur das leistet, entstehen in Einöden echte Schmuckstücke.
Nachhaltige Baukunst in abgeschiedener Gletscherwelt
Dass sich auch unter Extrembedingungen nachhaltig bauen lässt, beweist die Neue Monte Rosa Hütte in Zermatt: In knapp 3.000 Metern Höhe entstand 2009 eine Alpen-Unterkunft, die zu 90 Prozent energieautark ist. Der „Bergkristall“ ist das Jubiläumsprojekt zum 150-jährigen Bestehen der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Der Churer Architekt Andrea Deplazes musste in der Gletschereinöde unter schwierigsten Bedingungen arbeiten. Die komplexe Holzkonstruktion – 400 Holzelemente, nur zwei rechte Winkel – wurde digital vorgefertigt. Der felsige Untergrund und das hochalpine Klima verlangten im Vorfeld eine minutiöse Planung von Bauteilgröße, Gewicht, Transportmittel und Montagezeit. Eine Kugel wäre die thermodynamisch und bauphysikalisch ideale Form gewesen.
Im Hinblick auf Standort und Zweck realisierbar war ein facettiertes, asymmetrisches Prisma mit schimmernder Aluminiumfassade. Die Neue Monte Rosa Hütte wird weitestgehend mit Solarenergie betrieben. Photovoltaikpaneelen in der Südfassade produzieren Strom, der für eine lückenlose Versorgung in Batterien gespeichert wird. Sonnenkollektoren sorgen für warmes Wasser und temperieren die Zuluft der mechanischen Lüftungsanlage. Ein mit Rapsöl betriebenes Blockheizkraftwerk stellt Wärme und Elektrizität in den Spitzen sicher. Das Energiemanagement ist ausgeklügelt und setzt auf intelligent vernetzte Haustechnik. Mehr als die neue alpine Architektur beeindruckt die Besucher des nachhaltigen Gletscherrefugiums allerdings die grandiose Aussicht.
Ehrfurcht als museales Erlebnis
Das Messner Mountain Museum Corones ist der sechste Ausstellungsort, den der Südtiroler Extremkletterer in den Bergen seiner Heimat realisiert hat. Verantwortliche Architektin des 2015 vollendeten Baus auf dem Kronplatz war die Kurven-Designerin Zaha Hadid. Das Projekt stellte Ingenieure und Arbeiter vor einige Herausforderungen. 4.000 Kubikmeter Erde mussten bewegt werden, um das Konstrukt in den Berg hinein und aus ihm heraus ragen zu lassen. Jedes der riesigen, dreifach verglasten Fenster wiegt allein 1,4 Tonnen und musste per Lkw auf den Gipfel transportiert werden.
Drei „Finger“ führen in die unterirdischen Ausstellungsräume. Ihre Innenwände und Außenhüllen bilden an die 400 vorgefertigte Bauteile aus Textilbeton. Der Verbundwerkstoff ist nicht nur ausgesprochen leicht, sondern gleichzeitig sehr stabil und druckfest. Von einer zentralen Plattform im Inneren erschließt sich durch die drei Fenster an den Fingerkuppen die grandiose Bergwelt. Corones bietet damit ein Museumserlebnis, das Architektur, inhaltliche Botschaft und Ausblick auf sehr besondere Weise vereint. Der Besucher verlässt das Haus mit Ehrfurcht vor der Natur und Demut.
Steinalte Holzhütte neu erschaffen
Erhalten konnten Georg Nickisch und Selina Walder das alte Maiensässhäuschen im Schweizer Kanton Graubünden nicht. Der Zustand des traditionellen Holzbauwerks war zu schlecht. Deshalb erschufen die Architekten es 2012 neu – und zwar aus Beton. Als „Versteinerung“ der ursprünglichen Berghütte steht nun „Refugi Lieptgas“ an der gleichen idyllischen Stelle im Flimser Wald. Die Designer nutzten die massiven Rundhölzer der ursprünglichen Hütte als Schalung für die Betonwände. Die Abdrücke der Baumstämme erwecken den Eindruck, als sei das neue Steinhaus aus Holz. Die Südseite des außergewöhnlichen Feriendomizils schmiegt sich an eine Felswand, die die Planer sehr bewußt in ihren Entwurf einbezogen haben. Der Ausblick vom Bett auf das schroffe Gestein ist beeindruckend.
Viel spektakulärer als in der grandiosen Bergwelt der Alpen können sich Architektur und Natur nicht gegenseitig inszenieren. Aber auch an anderen Orten auf der Welt gibt es beeindruckende Bauplätze in der Wildnis. Besonders dann, wenn der verantwortliche Designer behutsam plant.